Einige Impressionen der Gründungsfeier
Visionen brauchen Orte – Orte brauchen Visionen
Vorstellung von Sr. Maura Zátonyi OSB, Vorsitzende der St. Hildegard-Akademie
Der komplette Text
Visionen brauchen Orte
Ja, Visionen brauchen einen Ort, damit sie Realität werden können. Das wusste die hl. Hildegard, die wohl berühmteste Visionärin des Mittelalters. Als sie in einer wunderbaren Lichtschau beauftragt wurde, ihre Visionen öffentlich zu verkünden, erkannte sie: Visionen brauchen Orte. Während sie noch ihre Visionen niederschrieb, fasste sie den Entschluss, ein eigenständiges Kloster zu gründen. Gegen alle Widerstände setzte sie ihren Plan – ihre Vision durch. Dabei erwies sie sich als eine – heute würde man sagen – geschickte und kluge Managerin. Sie baute ein Kloster auf, dessen Existenz sie in jeder Hinsicht absicherte: räumlich, wirtschaftlich, rechtlich, institutionell und spirituell.
So sind wir bei Hildegard immer gut beraten, wenn wir etwas Solides, etwas Innovatives und Zukunftsweisendes in Angriff nehmen. Als vor zwei Jahren die Initialzündung kam, eine Institution zu gründen zur Förderung der Hildegard-Forschung verbunden mit einer europapolitischen Ausrichtung, war es uns wichtig, dieser Idee, dieser Vision, eine institutionell und rechtlich klare Struktur zu geben. So entstand die St. Hildegard-Akademie und zwar in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins.
Visionen brauchen Orte – aber ebenso gilt:
Orte brauchen Visionen
Hildegards Klostergründung hat trotz zerstörerischer Heimsuchungen bis heute Bestand. Dieser Ort, wo wir heute versammelt sind, steht in der Tradition der hl. Hildegard. Das bedeutet über 850 Jahre Fortbestand! Wie kann das gelingen?
Hildegard war sich dessen bewusst, dass Charisma und Institution aufeinander angewiesen sind: Visionen brauchen Orte – und Orte brauchen Visionen.
Das Charisma braucht eine Institution, nur so kann es seine Wirkung nachhaltig entfalten.
Eine Institution dagegen braucht das Charisma, damit sie ausstrahlen und bewegen kann.
Das institutionell gefasste Charisma Hildegards bezeugt diese Stärke. Als Anfang des 20. Jahrhunderts das hildegardische Kloster neu errichtet wurde – es war nämlich vorher bei der Säkularisation aufgelöst – also bei der Neugründung waren die Nonnen bemüht, parallel zum äußeren Aufbau auch das geistig-geistliche Erbe Hildegards aufleben zu lassen. Während noch Handwerker am Kloster bauten, widmeten sich manche Nonnen intensiv der theologischen Erforschung der Werke Hildegards. Diese meine Mitschwestern haben der weltweiten Hildegard-Forschung bis heute tragfähige Fundamente gelegt.
Mit der Gründung der St. Hildegard-Akademie gelingt es zum ersten Mal, das Charisma der Hildegard-Forschung in der Abtei zu institutionalisieren. Zugleich bildet die St. Hildegard-Akademie die „Heimatstätte“ der internationalen Hildegard-Forschung.
Ganz im Sinne der hl. Hildegard verknüpft die Akademie Wissenschaft und Forschung mit der Übertragung wissenschaftlicher Ergebnisse in aktuelle gesellschaftliche Kontexte.
Dabei greift die St. Hildegard-Akademie das Charisma Hildegards auf, die gleichermaßen Theologin wie Politikerin war. Vielleicht nannte sie sich nicht explizit eine Europäerin, aber sie praktizierte dies. Sie stand in Kontakt mit Päpsten, mit Kaiser Friedrich Barbarossa, dem englischen König, der byzantinischen Kaiserin, dem Herzog von Lothringen, dem Grafen von Flandern usw. – also mit den damaligen Verantwortungsträgern auf europäischem Boden.
Mit einer europapolitisch angewandten Theologie liegt also die Akademie in der Tradition der hl. Hildegard.
Die Akademie versteht sich zudem als eine Initiative, die in Rückbesinnung auf die europäische Geistesgeschichte nach Antworten auf die Sinnfrage der Menschen sucht. Vor allem geht es darum, jene Spiritualität zu vermitteln, die der christlichen Glaubenserfahrung eigen ist und der europäischen Mentalität entspricht. Eine solche europäische Spiritualität ist in der benediktinischen Tradition verwurzelt. Das ist eine Lebensform und Glaubensform, welche Gottesdienst, Studium und Weltgestaltung verbindet.
Visionen brauchen Orte – Orte brauchen Visionen. Und wir können fortsetzen:
Orte und Visionen brauchen Menschen
Dass die St. Hildegard-Akademie entstanden ist, verdankt sich nicht zuletzt einer schicksalhaften Begegnung – oder mit meinem Ausdruck: einer heilsgeschichtlichen Fügung. Im März 2017 nahm ich an der Plenarversammlung der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg teil. Dort waren die Plätze alphabetisch reserviert. So kam es, dass ich mit meinem „Z“ neben einen Herrn mit „W“ gelangte: Mons. Weninger, ein österreichischer Botschafter und Mitarbeiter im Vatikan, den wir Ihnen bald vorstellen werden. Kurz nach unserem damaligen anregenden Gespräch überraschte mich Mons. Weninger mit der Idee einer Akademie-Gründung. Ihr Ziel sollte sein, den spirituellen und wissenschaftlichen Beitrag unserer Abtei für Kirche und Gesellschaft in Europa fruchtbar zu machen.
Ein Österreicher und – wie Sie an meinem Akzent hören – eine Ungarin: Was kann daraus werden? Eben ein europäisches Projekt! Und so haben wir miteinander Zielsetzung und Struktur der Akademie konzipiert. Äbtissin Mutter Dorothea hat die Gründung der Akademie von Anfang an befürwortet und mit Wort und Rat beigestanden. Im regen Austausch zwischen Eibingen und Rom – und natürlich in Wien – entwickelte sich die Idee der Akademie zu einer Realität. Bald sind weitere Mitstreiter und Mitstreiterinnen – wie ich sagen würde durch heilsgeschichtliche Fügungen – dazu gekommen. In beherzter Zusammenarbeit haben wir unsere Akademie in ihrer jetzigen Gestalt aufgebaut.
Im Bereich „Wissenschaft / Forschung“ ermöglicht die St. Hildegard-Akademie eine qualifizierte Vernetzung von Wissenschaftlern und regt den Austausch unter Experten an. Dazu sind auf der Homepage zwei Plattformen eingerichtet und sie sind bereits gut frequentiert: Wissenschaft in Profil und ProjektPanorama. Auch werden wir Veranstaltungen zu den Themenschwerpunkten der Akademie organisieren.
Darüber hinaus sind wir mit Repräsentanten aus Politik, Gesellschaf, Wissenschaft, Kirche und Wirtschaft ins Gespräch gekommen. Dieser begonnene Dialog ist in der Broschüre dokumentiert, die Sie beim Empfang in die Hand bekommen haben. Das breite Spektrum der Beiträge zeigt, dass die Akademie sich als ein Bindeglied zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, zwischen Kirche und Gesellschaft versteht und dafür schon jetzt einen ermutigenden Zuspruch erhält.
Die St. Hildegard-Akademie braucht Menschen, damit Visionen an diesem Ort Realität werden können. Es liegt an uns – es liegt an Ihnen, was wir aus dieser einzigartigen Verbindung von Charisma und Institution gestalten. Mit dieser Gründungsfeier lade ich Sie herzlich zum Mitwirken in der St. Hildegard-Akademie ein!
Orte und Visionen brauchen uns. Zum Schluss möchte ich hinzufügen:
Wir brauchen Orte mit Visionen!
Hildegards Charisma könnte eine solche Vision sein, die wir an diesem Ort weitertragen möchten. Vor rund 90 Jahren hat Sr. Maura Böckeler, die erste Hildegard-Forscherin unserer Abtei, das so ausgedrückt:
„Hildegard erkannte die Zeichen der Zeit. Sie wusste, dass die uralten Prinzipien, die mit der Benediktusregel in ihre Hand gelegt wurden, das Heilmittel in sich trugen für die Herausforderungen ihres Jahrhunderts. Aber, und davon war sie überzeugt, nur der Geist, spiritus, macht lebendig, der tote Buchstabe nützt nichts. Sie wollte Trägerin des Geistes sein. [...] In dieser spirituellen Regsamkeit erweist sie sich als eine Trägerin der Kultur, die empfangenes Erbe vermehrt und befruchtend hinüberleitet in eine spätere Zeit. [...] Was ihren Worten und Taten die zündende Wirkung verlieh, das hat die Geschichte ausgedrückt, indem sie ihr den Namen der Prophetin verlieh. Prophet heißt Träger und Künder des Geistes sein.“ (Maura Böckeler: „Die heilige Hildegard als Äbtissin im Rahmen des 12. Jahrhunderts“, in: Benediktinische Monatsschrift 11 (1929) 435-450, 441 und 450)
„Träger und Künder des Geistes sein!“ – Diese Vision ist in der St. Hildegard-Akademie uns anvertraut!
Kontemplation und Kampf – Hat das christliche Europa eine Gegenwart?
Mons. DDr. Michael Weninger, Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter a.D., Mitglied des Päpstlichen Rates für den interreligiösen Dialog beim Heiligen Stuhl
Abstract zum Festvortrag
Quo vadis, Europa? – können wir heute fragen. Europa ist ein Projekt mit einem nach vorne offenen Ausgang. Europa ist eine „Idee“. Seine Grenzen und seine historischen, politischen Entitäten unterliegen dem Wandel der Geschichte. So fragt sich die gegenwärtige Generation in der heutigen Krise der repräsentativen Demokratie, wer wir sind, wenn wir uns als Europäer bekennen.
Europa ruht auf drei Säulen: Jerusalem, Athen und Rom. Das sind die fundamentalen Quellen, aus denen Europa gestaltet wurde. Das Christentum ist dabei das alles zusammenhaltende Fundament dieses Europa. Selbstredend, daß noch verschiedene Konzeptionen und Phänomene hinzugezählt werden müssen: die religiöse Orthodoxie, das Judentum, das eine und andere islamische Moment, die Kirchen der Reformation und die Aufklärung. Bei aller Vielfalt an Einflüssen ist nicht zu leugnen, dass die europäische Geschichte eine christliche Geistesgeschichte ist. Zur christlichen Prägung Europas gehört nicht zuletzt der Dialog und die Wechselwirkung mit den eben aufgezählten Elementen.
Europa ist ein christlich fundierter Kontinent. Gleichzeitig wird Europa von einer „Idee“, vom Traum eines geeinten Kontinents gekennzeichnet. Vielleicht bedurfte es zweier Weltkriege, um uns Europäern klar zu machen, was es heißt, in Solidarität, Frieden und Prosperität Grenzen zu überwinden, um ein gemeinsames großes Ganzes zum Vorteil von uns allen zu schaffen. So leben die Bürger Europas heute in der längsten Friedensperiode in der Geschichte, die gleichzeitig eine prosperierende ist.
Dennoch krankt dieses Europa. Es krankt am Mangel des Selbstbewußtseins seiner Bürger. Und es krankt am Respekt der Politiker vor den Sehnsüchten, Wünschen und Bedürfnissen der Menschen, die sie vertreten sollten.
Europa besteht aus einer Vielfalt von Kulturen, Traditionen, Ethnien, Sprachen und Mentalitäten seiner Bürger. Das Europa der Zukunft ist das Europa der Bürger, der Regionen, der vielfältigen Kulturen und Traditionen und nicht das eines zentralistischen Kolosses! Und es wird, trotz allem, ein christlich fundiertes Europa bleiben. Es muß sich nur seiner weltanschaulichen und spirituellen Wurzeln und Kraftströme eingedenk sein!
Im Urchristentum haben sich grundlegende Elemente der Glaubenspraxis ausgebildet, welche Kontemplation und Kampf auf eine konstruktive Weise verbinden. Diese wurden durch Jahrhunderte in den Klöstern weitergetragen, so daß sie für uns heute Inspirationsquellen für unser Sein und Tun bilden können:
- Liturgia: das Feiern im eigentlichsten Sinn, die Fähigkeit, Frei-Zeit zu gestalten und Muße zu zelebrieren;
- Diakonia: der Einsatz für die Zukurzgekommenen, für die geistig und spirituell Hungernden, für diejenigen, die nach Halt und Orientierung suchen;
- Martyria: das Zeugnis des Glaubens, um die eigene Überzeugung in Gesellschaft und Politik glaubwürdig zu vertreten, für eine Religionsfreiheit, für die religiöse Selbstbestimmung des Menschen einzutreten, eine überzeugende Glaubenserfahrung zu vermitteln;
- Koinonia: ein solidarisches Zusammenleben und -wirken, ein geschwisterliches Teilen der Sorgen und Freuden, die Anerkennung der Grundwerte menschlichen Lebens: Personsein und Zugehörigkeit;
- „ut in omnibus glorificetur Deus“ – „damit Gott in allem verherrlicht wird“ (Benediktusregel, Kapitel 57): den Gottesbezug in all unserem Handeln bewußt machen.
Europa wird soweit religiös fundiert sein, wie die Akteure in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft selber praktisch-religiöse Menschen sind. Je mehr engagierte Christen ihre zur Verfügung stehenden politischen, gesellschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen verstehen, umso christlicher wird das Ergebnis eines europapolitischen Mitwirkens sein! Und zum Wohle von allen Europäern! Diese Mitgestaltung setzt allerdings mündige Bürger voraus, die sich ihrer geschichtlichen und weltanschaulichen Herkunft bewußt sind und in freier Selbstverantwortung zum Gestalter, Mitgestalter Europas werden.
Europa ist ein Experiment, ein „work in progress“. Seine Entwicklung hängt nicht zuletzt davon ab, wie weit wir bereit sind, unseren Gestaltungauftrag kontemplativ-entspannt und kämpferisch-entschlossen zu erfüllen.
Michael H. Weninger, römisch-katholischer Priester, Dr. phil. et Dr. theol., mehrere Ehrendoktorate. Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter der Republik Österreich i.R. Langjähriger Politischer Berater der Präsidenten der Europäischen Kommission in Brüssel. Seit 2012 Mitglied im Päpstlichen Rat für den interreligiösen Dialog (zuständig für den Dialog mit dem Islam) beim Heiligen Stuhl.
Grußworte
Hildegard von Bingen als Prophetin und Fürsprecherin Europas
von Walter Kardinal Kasper, Vatikan
Verantwortungsbewusstsein und Verantwortungsbereitschaft
von Hessischem Kultusminister, Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz
Hildegard von Bingen – eine Powerfrau des 12. Jahrhunderts
von Birgit Collin-Langen, MdEP, Brüssel
Neues denken – Mut zum Forschen
von Frank Kilian, Landrat Rheingau-Taunus-Kreis
Forschende Wissenschaft und Lebenskunde – verankert im christlichen Glauben
von Dr. Georg Bätzing, Bischof von Limburg
Bildung ist mehr als Lernen
von Dr. Dewi Maria Suharjanto, Katholische Akademie Rabanus Maurus, Haus am Dom, Frankfurt am Main
Moderne Umsetzung des prophetischen Auftrags Hildegards für junge Menschen:
Lesen – Verstehen – Hinterfragen
von Andrea Bartl, Stiftung Lesen, Mainz
Die Wurzeln europäischer Handwerkskultur im benediktinischen Mönchstum
von Prof. Dr. Burkhard Schwenker, Roland Berger Strategy Consultans, Hamburg
Theologische und philosophische Erforschung der Werke Hildegards von Bingen
von Univ.-Prof. Dr. Mechthild Dreyer, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Heilige, Universalgenie und mutiges Gewissen ihrer Zeit – Die Weitergabe der Botschaft der hl. Hildegard heute
von Sophie Gräfin zu Eltz, Verein der Freunde der Benediktinerinnenabtei St. Hildegard e.V., Frankfurt am Main
„Leuchtende Werke“ – zum Wohl anderer
von Jörg Ultsch, Bethmann Bank AG, Frankfurt am Main
Vom Lebensquell des Wortes und der umarmenden Mutterliebe Gottes – Was eine St. Hildegard-Akademie unserer Welt geben könnte
von Prof. Dr. Joachim Valentin, Katholische Akademie Rabanus Maurus, Haus am Dom, Frankfurt am Main
Brücken bauen durch Wissenschaft, Lehre und Spiritualität
von Dr. Gülden Özbek-Potthoff, Ingelheim am Rhein
Hildegard – ausbuchstabiert für die Gegenwart
von Dr. Peter Frey, ZDF, Mainz
Europäische Spiritualität
von Christiane Schubert, JOBLINGE gAG, Frankfurt am Main
Hildegard-Forschung im Spiegel des Aschendorff Verlags
von Dr. Dirk F. Paßmann, Aschendorff Verlag, Münster
Meine Begegnung mit Hildegards erster Wirkungsstätte – aus der Sicht eines Verlegers
von Dr. Albrecht Weiland, Verlag Schnell & Steiner, Regensburg
Hildegard von Bingen als Bibeltheologin
von Prof. Dr. Ansgar Wucherpfennig SJ, Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt am Main
Hildegard für Wissenschaft und Frauenförderung
von Prof. Dr. Gisela Muschiol, Universität Bonn
Benediktinische Regeln als Wegweiser in Zeiten des Umbruchs
von Thomas K. Scheffold, Droege Group, Düsseldorf
Discretio – die Balance finden
Abt Dr. Johannes Eckert OSB, Abtei St. Bonifaz, München
Eine Akademie in drei Zeitdimensionen – Aus der Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft
von Prof. Dr. Reimund Bieringer, Katholieke Universiteit Leuven
Symphonialis est anima
von Dr. Klaus Albert Bauer, Bad Vilbeler Kammerorchester, Frankfurt am Main
Ist das nicht wunderschön – trotz allem? Zur Gründung der St. Hildegard-Akademie ein weiter Blick über das Rheintal und darüber hinaus
von Alexander Antonoff, Nestlé Deutschland AG, Frankfurt am Main