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Wer ist Hildegard von Bingen (1098-1179), diese Nonne, die so viele Menschen anzieht, wie kaum eine andere Persönlichkeit aus dem Mittelalter? Will man eine Antwort auf diese Frage finden, kommt man schnell in Verlegenheit. Zum einen steht Hildegards Name auf Naturprodukten und Dinkelplätzchen, in ihrem Namen wird Medizin angeboten und werden Fastenkuren gehalten. Zum anderen ist von ihr ein umfangreiches theologisches Werk überliefert, dessen Lektüre eine große Herausforderung darstellt.

Eine Einführung in das Leben und Werk der hl. Hildegard von Bingen

von Dr. Hildegard Gosebrink

Hildegard von Bingen (1098-1179) gilt heute vielen als die Autorin von Rezepten; Ratgeber und Produkte tragen ihren Namen. Aber ihr Name ist nicht geschützt. Was geht tatsächlich auf Hildegard zurück? Und was kann man heute von ihr lernen?

Hildegard kommt als junges Mädchen ins Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg an der Nahe. Hier lernt sie lesen und schreiben, singen und Latein, hat Zeit für Bibel und Wissenschaft. Dass sie im Mittelalter 81 Jahre alt wird, verdankt sie dem Leben im Kloster. Mit Ende dreißig wird sie zur Vorsteherin der Schwesterngemeinschaft, die dem Benediktinerkloster angeschlossen ist. Bald darauf beginnt sie, ein Buch zu schreiben. Ihrem Selbstverständnis zufolge hat Gott sie beauftragt, in diesem Buch die Bibel auszulegen. Es trägt den Titel „Scivias“, Wegweisung. Es soll nicht nur in ihrem Kloster, sondern in der ganzen Weltkirche gelesen werden. Hildegard ist klug. Sie plant keinen Umsturz. Sie gewinnt mächtige Unterstützter: Papst Eugen III., Erzbischof Heinrich von Mainz, später auch Kaiser Friedrich Barbarossa.

Bald darauf gründet Hildegard in Bingen ein eigenes Kloster, dem sie bis zu ihrem Tod als Äbtissin vorsteht. Hier entstehen weitere Werke. Hildegard beschreibt Tugenden und Laster, hilfreiche Kräfte und schädliche Mächte, die den Menschen einladen, mit ihnen zusammen zu wirken. Sie meint: Der Mensch hat eine große Verantwortung in der Welt. Er kann dieser Verantwortung gerecht werden, wenn er mit den Kräften zusammenarbeitet, die Gott ihm geschenkt hat. Sie legt die biblischen Schöpfungszeugnisse aus. Zu ihrer Zeit predigen die Katharer extremes Fasten. Sie können nicht glauben, dass unser Leib Gottes gute Schöpfung ist. Hildegard liest in der Bibel, dass alles gut ist, was Gott geschaffen hat. Anders als die Katharer bejaht sie Ehe und Sexualität. In der Mitte von Hildegards Bibelauslegung steht der Glaube daran, dass Gott in Christus Mensch geworden ist. Christus ist für Hildegard Gottes großes Ja zu seiner Schöpfung. Hildegard sieht den Menschen als Mittelpunkt. Heute gibt es Kritik an der Haltung, dass sich alles um uns Menschen drehen müsse. Von Hildegard lässt sich lernen, dass diese Sicht kein Freibrief ist. Denn der Mensch ist mit allem vernetzt. Beutet er die Schöpfung aus, schadet er sich letztlich selbst.

Hildegard hat auch komponiert. Überliefert sind 77 Gesänge samt Noten, deren Texte und Melodien sie schuf, außerdem ein Singspiel über den Weg der Seele zu Gott. Singen ist für Hildegard eine Lebensaufgabe: Als Benediktinerin verbringt sie jeden Tag etliche Stunden mit dem Singen der Psalmen. Musik bedeutet für Hildegard Gemeinschaft mit den Chören der Engel im Himmel, die Gott loben. Hildegard versteht die Musik auch als Heilmittel, vor allem gegen die Traurigkeit. Hildegards Briefwechsel zeigt, welch kluge Strategin und Politikerin sie war – und dass sie gleichzeitig keine Scheu hatte, die Mächtigen zu kritisieren. Sie nennt Missstände beim Namen und weist Bischöfe und Kaiser zurecht.

Alle diese Werke sind in Handschriften erhalten, die sich bis zu Hildegards Lebzeiten in die Schreibstube ihres eigenen Klosters zurückverfolgen lassen. Daher gilt Hildegard hier als Autorin. Zwei Werke mit natur- und heilkundlichem Inhalt finden sich in wesentlich jüngeren Handschriften mit unklarem Herkunftsort, so dass man ehrlicherweise sagen muss, sie wurden nur unter Hildegards Namen überliefert. Selbst wenn man sie aus dem Lateinischen übersetzt, gibt es viele Hürden für heute. Denn etliche Pflanzennamen lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Dies gilt erst recht für mittelalterliche Krankheitsbezeichnungen. Und es sind wirklich nur zwei Werke, die unter Hildegards Namen überliefert wurden. Darin finden sich zum Dinkel, für den Hildegard so berühmt ist, wenige Sätze, mehr nicht. Die vielen Koch- und Backbücher und Produkte, die heute erhältlich sind, haben mit der großen Benediktinerin aus dem zwölften Jahrhundert wenig zu tun. Das Wort Heilkunde passt dennoch zu Hildegard – nicht im Sinne von Rezepten, sondern als Kunde vom Heil, das Gott dem Menschen und der ganzen Schöpfung schenkt. Hildegard verstand sich als Prophetin dieser Kunde vom Heil.

Vor zehn Jahren wurde Hildegard zur Kirchenlehrerin ernannt. Kirchenlehrer- und lehrerinnen sind Kinder ihrer Zeit und daher nicht unfehlbar. Aber ihre Werke gelten als so wichtig, dass uns empfohlen wird, uns mit ihnen auseinander zu setzen. Hildegard ist die vierte Frau und die dritte Deutsche unter den aktuell 37 Kirchenlehrerinnen und -lehrern. Sie verbindet Weisheit und Politik, Spiritualität und Kunst. Ihre Werke vermitteln tiefe Einsichten über uns Menschen und unsere Verbindung mit der ganzen Schöpfung, in das Geheimnis Gottes und sein Geschenk der Musik. Es lohnt sich, bei dieser Lehrerin in die Schule zu gehen!

Dr. Hildegard Gosebrink
Leiterin der Arbeitsstelle Frauenseelsorge der Freisinger Bischofskonferenz
Mitglied der Hildegard-Akademie Eibingen e.V.

Lektüreempfehlung:

MAURA ZÁTONYI: Hildegard von Bingen (Zugänge zum Denken des Mittelalters 8), Münster 2017. ISBN 978-3-402-15674-2.


Hildegards Biographie in Eckdaten

1098 in Bermersheim oder Niederhosenbach geboren

Ca. 1112 Eintritt mit Jutta von Sponheim in die dem Mönchskloster Disibodenberg angeschlossene Klause und monastische Profess

1136 nach Juttas Tod wird Hildegard zur Magistra des Frauenkonvents gewählt

1141-1151 Niederschrift ihres ersten Visionswerkes, Liber Scivias (Wisse die Wege)

1147/48 Reformsynode in Trier: Anerkennung ihrer Schriften durch Papst Eugen III.

Um 1150 Klostergründung auf dem Rupertsberg und Übersiedlung

1161-1163 Reisen mit mehreren öffentlichen Predigten (u.a. in Mainz, Würzburg, Bamberg, Trier, Metz und Köln)

1158-1163 Arbeit am Liber vitae meritorum (Das Buch der Lebensverdienste)

1165 Zweite Klostergründung in Eibingen

1163-1170 Verfassung ihres letzten Hauptwerkes, Liber divinorum operum (Das Buch der göttlichen Werke)

1178 Konflikt mit der Mainzer Bischofsverwaltung, Interdikt über das Kloster Rupertsberg

17. September 1179 Hildegard stirbt im Kloster Rupertsberg

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